Die Spezies der Sonnenanbeter – lat. sol cultor – ist hinlänglich bekannt. Im Sommer trifft man solche Menschen häufiger an als im Winter. Aber eigentlich kann man sie das ganze Jahr über finden. Sie sind nicht scheu und man kann sie überall wo die Sonne scheint sehr leicht unter freiem Himmel beobachten. Ganz anders verhält es sich mit der artverwandten Spezies der Schattensucher – lat. umbrifer seekers. Doch warum bevorzugen diese Menschen Schatten, was macht ihn für sie erstrebenswert? Und was hat das alles mit „Aesthetics” zu tun?

Laut Definition ist Schatten der unbeleuchtete Raum hinter einem Objekt. Das klingt furchtbar sachlich und schrecklich uninteressant. Dabei ist er viel mehr. Schatten ist Dunkelheit, die nur in Verbindung mit Licht da ist. Somit ist der Schatten mit dem Licht zwingend verbunden – ein Ausdruck der Polarität. Der Schatten einer sich im Wind wiegenden Baumkrone mit ihren zahllosen kleinen Blättern ist Musik für die Augen – ein Wechselspiel von Licht und Schatten, eine Sinfonie ohne akustische Reize. Und er ist Phantasie. Jedes Objekt, jeder Baum, jeder Mensch hat einen ganz eigenen Schatten, der sich im Lauf des Tages in Abhängigkeit vom Stand bzw. Verlauf der Sonne und besonders auch in Abhängigkeit vom Standpunkt verändert.

                             

Schatten und Phantasie

Am Morgen beginnt er lang und schmal. Über Mittag schrumpft er auf sein Minimum zusammen um sich danach wieder zu entfalten und auszubreiten. Interessante Formen, abstrakte Gebilde: Drachen und Feen, Riesen und Zwerge, Burgen, Mini-Schlösser, Hexenhäuser. Das alles gibt es in unserem Garten – jedenfalls als Schatten in der Phantasie meiner Kinder. Da Ästhetik besonders auch in der Phantasie entsteht, können also Schatten zum Ausgangspunkt ästhetischer Erfahrungen werden.

Halbschatten und mehr

Der Schatten, den eine Kerze wirft, tanzt. Er streckt sich und fällt in sich zusammen. Er wiegt sich im Takt einer unhörbaren Musik. Bei zwei Kerzen entstehen sogar Halbschatten. Zwei sich völlig synchron bewegende helle Schatten, die nur an ihrer Schnittstelle dunkel sind. Sind die Lichtquellen farbig, kommt es zu komplementärfarbigen Schatten. Auch eine Sonnenfinsternis ist ein Ausdruck von Schatten. Einer der ganz besonderen Art. Ein großer Schatten, der eine eigentümliche Stimmung mit sich bringt. Die kleine Nacht am Tag, die die Vögel verstummen lässt und die Luft abkühlt. Eine ganz entscheidende Eigenschaft, die der Schattensucher wohl am meisten zu schätzen weiß: Schatten ist kühl. Er ist Erholung für die Haut an einem sonnigen Tag und Entspannung für lichtgeblendete Augen.

                             

Die Polarität von Licht und Schatten

Schatten folgen uns im wahrsten Sinne des Wortes auf Schritt und Tritt. Sie sind vielseitig, kurzweilig und faszinierend. Und sie sind es wert, dass man sie mehr beachtet und schätzt. Dahinter liegt aber immer auch das Andere: das Licht. Ohne Licht kann es keine Schatten geben. Doch ohne Schatten Licht. In der Philosophie war diese Beobachtung der Ausgangpunkt vielfältiger Überlegungen. Und in der Theologie lassen sich damit durchaus interessante Gedanken bewerkstelligen, ob das Böse ohne das Gute existieren kann – und umgekehrt. Unabhängig von komplizierten Antworten darauf können wir bei „Aesthetics” und an sonnigen Tagen aktuell sehr persönlich feststellen, dass das Grundprinzip der Polarität im Schatten seine kühlenden Vorteile hat. Und dass wir das Licht manchmal in seiner Strahlkraft und Klarheit erst dadurch erkennen.

Autor: Dagmar Schuler

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